Schulpflicht - Bildungspflicht - Freilernen

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dagmar fellwock
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Schulpflicht - Bildungspflicht - Freilernen

Beitrag von dagmar fellwock »

Schulpflicht – Bildungspflicht - Freilernen

Selbstbestimmte Bildung wie Freilernen meint ein von dem Menschen, von ihm selbst ausgehendes Lernen. In der selbstbestimmten Bildung steht der lernende Mensch im Zentrum, der seinen eigenen Interessen folgt, damit ihm ein zukunftsfähiges, intrinsisches Lernen möglich ist.

Es geht vor allem darum, dass der junge Mensch respektiert und ernst genommen wird, die Bildung selbst bestimmen kann oder zumindest mitbestimmen darf. Es geht also um sein Selbstbestimmungsrecht (nach Karen Kern).

Denn Lernen ist ein natürlicher Vorgang.
Lernen und Begeisterung sind angeboren. Sie müssen weder trainiert noch entwickelt werden, sie sind die inneren Potentiale eines jeden Menschen und doch ermüden sie im schulischen oder unterrichtenden, lehrenden Prozess, weil die Rituale der Erziehung nicht mit den Rhythmen der Neugierde in Resonanz stehen (nach Arno Stern).

Damit wird nicht zwangsläufig die Existenz, die Bereitstellung, Zugänglichkeit, also das Angebot des Staates von Schulen als eine Bildungsmöglichkeit verneint, sondern vielmehr das lernende Kind in den Mittelpunkt gestellt, statt die Lehren eines Unterrichtenden (nach Kristin Lehmann).

Auch unser Grundgesetz stellt den Menschen und seine Freiheiten in den Mittelpunkt, denn Art. 2 Abs.1 GG - „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“ - beinhaltet genau dieses Recht auf eine selbstbestimmte, seinem eigenen Potential entsprechende Bildung.
Daher kann auch kein Mensch zu einer Bildung oder zum Lernen verpflichtet werden. Täte man es, so wie es die Durchsetzung der Schulpflicht (nur in Schulgebäuden etwas gelehrt bekommen) fordert oder eine mögliche Bildungspflicht (irgendwo etwas gelehrt bekommen) fordern würde, ginge jeder junge verpflichtete Mensch fremdbestimmt gegen seine eigenen Interessen, gegen seine eigenen Potentiale vor. Denn auch eine Bildungspflicht verstieße gegen sein Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, Art.2 GG.

Eine gesetzliche Bildungspflicht als geringeres Übel in Hinblick auf die Schulpflicht zu sehen, ist also fatal, weil sie die Rechte der betroffenen jungen Menschen im selben Maße einschränkt wie die Schulpflicht.
Wie sähe denn solch eine Bildungspflicht in der Praxis aus? Praktisch würden schlicht die Eltern die Verantwortung über die Einhaltung des vom Kultusministerium vorgegebenen Lehrplans übernehmen müssen, wenn junge Menschen z.B. zu Hause lernen wollen. Da werden dann täglich die jungen Menschen überwiegend mit ihren Eltern sitzen, die sie jetzt genau das lehren, was früher der Lehrer mit den Schülern gepaukt hat. Es geht im Lehrplan des Kultusministeriums nämlich nicht um die Entwicklung von Potentialen, sondern um Auswendiglernen von Themen, die abgefragt werden – egal, ob sie sinnvoll oder gewinnbringend für den betreffenden jungen Menschen sind. Man könnte ihn auch ein Lexikon auswendig lernen und ihn dann vor der Prüfungskommission des Schulamtes abfragen lassen.

Es wäre paradox, einen natürlich im Menschen angelegten Prozess wie das Wachsen staatlich so in dem Maße lenken und überwachen zu wollen, wie es beim Lernen geschieht. Beim Wachsen käme es uns seltsam vor, weil dies ein körperlicher Prozess ist, warum beim Lernen nicht? Weil den meisten Menschen immer noch nicht klar ist, dass auch die Art und Weise wie man lernt, nicht nur körperliche Wirkungen hat.
„Ein guter Schulabschluss ist kein Zeichen von Intelligenz, sondern von guter Anpassungsfähigkeit.“ (Gerald Hüter)

Aus neurologischer Sicht hat ein Lehren, wie es überwiegend in staatlichen Schulen oder eben dann durch die Bildungspflicht auch im Hausunterricht stattfindet, für den jungen Menschen erhebliche negative Konsequenzen. Es ist nicht die Aufgabe der Eltern, den Geist ihres Kindes zu formen. Ihre Aufgabe ist es, dem Kind die Möglichkeit zu bieten, seinen Geist als lernendes Subjekt eigenständig zu entwickeln, sich seine Welt selbst zu erschließen. Wollen sie ihn jedoch etwas Vorgegebenes lehren, nehmen sie ihm die Möglichkeit, die vielen Aspekte dieser Welt und seiner eigenen Persönlichkeit kennenzulernen. Erklären und lehren sie etwas, wonach das Kind gar nicht gefragt hat, wird es aufhören, selbst Fragen zu stellen. Kinder dürfen nicht als Objekte der Vorstellungen, Absichten oder gar Bewertungen der Eltern oder Lehrer gemacht werden. Damit nimmt man ihnen die Würde (und verstößt auch noch damit gegen Art. 1 GG). Nur wenn sie als eigenständige Subjekte in ihrem eigenen Tempo ihren eigenen Interessen nachkommen dürfen, ist ein Lernen überhaupt möglich.
„Kein Mensch kann seine Potentiale entfalten, wenn er in seiner Würde durch andere verletzt wird oder er gar selbst seine Würde verletzt.“ (Gerald Hüter)
Aber genau das täte man auch im Hausunterricht, der nicht zum Ziel hätte, das Potential des jungen Menschen zu fördern, sondern Auswendigerlerntes bei Prüfungen wiederzukäuen. Man hat, wenn man dem Lehrplan des Kultusministeriums folgt, nichts Eigenes, außer solche kleinen Annehmlichkeiten, dass man beim Lehren von Mutti nebenbei vielleicht sein Brot essen und jederzeit auf die Toilette darf. Aber ansonsten hat man genau wie in Schulen das vorgegebene Jahresziel zu erreichen, sonst hat man sich nicht bewährt.

Das bedeutet schlicht, dass einem dieses scheinbare kleinere Übel einer „Bildungspflicht“ nicht einen Schritt weiter zur Bildungsfreiheit gebracht hat. Im Gegenteil: waren vorher noch die Lehrer diejenigen, die die Verantwortung über die Lehrinhalte zu tragen hatten, ist es nun Mutti, die das vor ihrem Kind zu verteidigen hat. Will man den ministeriellen Lehrplan seinem eigenen Kind gegenüber verteidigen, das Kind zum Lernen zwingen, ihm Lehrthemen, Lehrzeit und Lehrpüfungen aufzwingen müssen? Das genau würde aber eine Bildungspflicht nach sich ziehen. Und was, wenn sich das eigene Kind auch gegen diese Fremdbestimmung durch die Eltern wehrt? Wer kann ihm dann noch helfen, wenn die Eltern sich zum verlängerten Arm des Kultusministeriums gemacht haben und ihrer Rolle als für das Kind verantwortliche Eltern nun nicht mehr nachkommen können? Wohin kann sich das hilflose Kind dann wenden?

Soviel Freiheit täte manchen Familien nicht gut? Weil diese Eltern vielleicht nicht zum Wohle des Kindes handeln würden? Das sind Ausnahmefälle, die es in allen Gesellschaftsschichten gibt. Der Befürchtung evtl. Vernachlässigung kann begegnet werden durch die dafür bereits vorgesehenen Jugendämter, die nach BGB das Recht und die Pflicht haben, dies zu überprüfen.
Wegen solchen Einzelfällen darf aber nicht der Allgemeinheit verwehrt werden, ihr grundgesetzliches Recht auszuüben.
Für eine gesunde Entwicklung unserer Kinder braucht es eine Vielzahl von Gelegenheiten für die jungen Menschen, sich als aktive Gestalter ihres eigenen Lebens zu erfahren. Das geschieht nicht durch Schul- oder Bildungspflicht.
Bildung ist die Summe von allem, was eine Person lernt, um ein zufriedenstellendes und sinnvolles Leben zu führen.(nach The Alliance for Self-Directed Education)

Und dabei haben alle Menschen das Recht, ihre Potentiale zu entfalten, selbstwirksam tätig zu sein und eigene Handlungsstrategien zu entwickeln, die ihnen ermöglichen, die wichtigsten Fragen ihres Lebens selbst zu beantworten:

Was für ein Mensch will ich sein?
Wozu will ich dieses Leben nutzen?

Was wollen wir? Ein Recht auf eine freie selbstbestimmte Bildungsentscheidung - und nicht weniger!
Denn diese steht unseren Kindern nach Art. 2 GG zu und es ist an uns Eltern, dieses Recht zu verteidigen.

devce z cech
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Re: Schulpflicht - Bildungspflicht - Freilenen

Beitrag von devce z cech »

Du magst schon Recht haben, mit dem Ziel Freilernen zu legalisieren. Aber auf welchem Planet lebst du bitte? Es ist eben völlig illusorisch, dass so etwas gesetzlich in Deutschland erlaubt wird.
Es ist nicht zu vereinbarren mit der Kultur dieses Landes. Der Deutsche Drang nach Kontrolle und Ordnung und "gleiche Regel für alle" ... Schaffe ;-) steht im Weg.

Eine Bildungspflicht dagegen hat jetzt eine, wenn auch geringe, Chance auf Erfolg.

Ich stimme dir gar nicht zu, dass man da das gleiche bekommt - es geht darum, wie man die Regel der Bildungspflicht bestimmt - ich könnte mir durchaus vorstellen, dass man entweder die Regelung mit der Prüfung am Jahresende übernimmt oder aber (parallel ?) die Regelung von Begleitung (Kontrolle) durch Kontaktlehrer in einer Schule, die man wählt - z.B. der Montessorimodel könnte da durchaus Potential haben für sowas - da geht es ja im Grunde darum, dass unterschiedliche Wege zum Ziel führen und wenn ein Kind eben erst z.B. lieber Mathe macht, dann lässt man ihm eben, bis es selber darauf kommt, dass Lesen durchaus interessant und nützlich sein könnte. In solchem Fall müsste man eben nur nachweisen das man lernt und nicht was man lernt.
Dem Lernendem stehen ja jetzt schon die Wege offen, um Prüfungen nachzuholen, wenn er es möchte.

Man muss die Gegner überzeugen, dass ein Kind wird eine gleiche Chance auf Abschlusshaben, als die "Schulbesucher". Sonnst machen sie nicht mit. Dass, wenn ein Kind diesen weg, den für ihm die Erziehungsbereichtgten am Anfang gewählt haben (also das Freilernen) doch nicht als das richtige am Ende sehen soll und lieber einen Abschluss haben möchte, dass es trotzdem die Möglichkeit hat, in den System wieder einzusteigen.
Man könnte ja jetzt schon z.B. damit argumentieren, dass auch ein Kind, dass an der Hauptschule gelandet ist, weil es aus eine Bildungsfernenfamilie stammt, sich aber dann rappelt und begleitend zum Beruf sogar Abi macht, jetzt auch kein Latein oder Französisch an seiner Hauptschule hat und verliert dadurch die Chancegleichheit.

Ein Spielraum zum Freilernen ist also durchaus da, wenn man Bildungspflicht als Ziel setzt und gleichzeitig Freilernen will.

Bei dir klingt es ein wenig als hättest du das Kind mit dem Badewasser rausgeschüttet, sorry, bitte nimm es nicht persönlich.

Wenn man dir nicht zuhören möchte (und genau das ist der Fall bei den Gegnern - nicht bei mir) dann hört man Folgendes - "Ich will, dass mein Kind das Recht hat, gar nichts zu lernen, wenn es ihm danach ist. Bin völling damit einverstanden, wenn es verblödet."

Ich weiss natürlich, dass du sowas nicht befürwortest, weil dem nie so wäre, weil Kinder eben ganz anders ticken - sie sind nicht faul, sie sind wissbegierig, wenn sie nur der Freiraum bekommen, aber dass muss man erst diesen Leuten beweisen - mit deutschen Kindern die in Deutschland leben - weil was interessiert es einen deutschen Beamten, was der Franzos oder sonnst einer macht ;-).

Damit man es überhaupt zeigen kann, muss man erst Bildungspflicht erreichen, mit ausreichend Spielraum für Freilerenen.

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ToMaCoR
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Re: Schulpflicht - Bildungspflicht - Freilernen

Beitrag von ToMaCoR »

devce z cech hat geschrieben:
28. Mai 2020, 07:07
Damit man es überhaupt zeigen kann, muss man erst Bildungspflicht erreichen, mit ausreichend Spielraum für Freilerenen.
Bildungspflicht aus zwei Richtungen betrachten.
Artikel 101(Sächsische Verfassung)
[Grundsätze der Erziehung und Bildung]
(1) Die Jugend ist zur Ehrfurcht vor allem Lebendigen, zur Nächstenliebe, zum Frieden und zur Erhaltung der Umwelt, zur Heimatliebe, zu sittlichem und politischem Verantwortungsbewußtsein, zu Gerechtigkeit und zur Achtung vor der Überzeugung des anderen, zu beruflichem Können, zu sozialem Handeln und zu freiheitlicher demokratischer Haltung zu erziehen.
Die Pflicht des Staates. Und die Pflicht der Eltern.
Artikel 101 (Sächsische Verfassung)
[Grundsätze der Erziehung und Bildung]
(2) 1Das natürliche Recht der Eltern, Erziehung und Bildung ihrer Kinder zu bestimmen, bildet die Grundlage des Erziehungs- und Schulwesens. 2Es ist insbesondere bei dem Zugang zu den verschiedenen Schularten zu achten.
Frage: Wie ist die Definition von "Schulwesen"?
Der Begriff Schule muss gedanklich anders verwendet werden; ähnlich "Schule des Lebens". Darin wird jede Erfahrung als Lerninhalt gewertet und wir hätten eine unglaubliche Vielzahl von Schularten.

Wikipedia sagt zu Schule:
Die Schule [...] ist eine Institution, deren Bildungsauftrag im Lehren und Lernen, also in der Vermittlung von Wissen und Können durch Lehrer an Schüler, aber auch in der Wertevermittlung und in der Erziehung und Bildung zu mündigen, sich verantwortlich in die Gesellschaft einbringenden Persönlichkeiten, besteht.
Frage: Was sind Lehrer? Was sind Schüler?

Mit einer solchen Sicht auf Schule, ließe sich
Artikel 102 (Sächsische Verfassung)
[Schulwesen, Lernmittelfreiheit]
(1) 1Das Land gewährleistet das Recht auf Schulbildung. 2Es besteht allgemeine Schulpflicht.
(2) Für die Bildung der Jugend sorgen Schulen in öffentlicher und in freier Trägerschaft.
auch so lesen, dass der Staat Bildungsmöglichkeiten zur Verfügung stellt (Abs. 1). Diese gewährleistet er durch seine öffentlichen Schulen und mit der Option der freien Trägerschaft (Abs. 2), womit er zu seinem Angebot auch andere Schule zulässt.
Frage: Was ist freie Trägerschaft?
Es wäre nötig, die freie Trägerschaft erweitert zu definieren. Darin kann auch der Freilerner enthalten sein, der sich selbstbestimmt eine Lernmethode aussucht. Diese individuelle Vereinbarung unterliegt wiederum der staatlichen Aufsicht.
Artikel 103 (Sächsische Verfassung)
[Schulaufsicht]
(1) Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Freistaates.
Die Gesetzgebung, also in meinem Beispiel die sächsische Verfassung, bietet m.E. strukturell genügend Freiheiten. Die Begriffsdefinitionen Schule, Lehrer müssen funktional und nicht institutionell (via Genehmigung oder Abschluss/Zertifikation) betrachtet werden.

Also öffentlich fragen, was Schulen/Lehrer für Aufgaben haben. Aktuelle Praxis daran spiegeln, wie dieses System diesen Aufgaben gerecht wird. Dazu andere Bildungs-/Beziehungssysteme (Familie: Eltern/Kind, Spielplatz: großes Kind/kleines Kind, Sportverein: Trainer/Kind, Bibliothek: Angestellte/Kind, ...) benennen und darin die "Grundsätze der Erziehung und Bildung" aufzeigen und als Bildungsmethoden deutlich machen.
Thomas Cordts
(Administrator des BVNL-Forums)


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